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Interview mit Juan Emilio Basso, Organisation Hijos - Kinder von Verschwundenen

Juan Emilio Basso ist Mitglied der Organisation Hijos - Kinder von Verschwundenen. Die Gruppe der Mütter vom Plaza de Mayo war eine der ersten Gruppen, die in Argentinien gegen das Verschwinden von Menschen protestierte und Gewissheit über das Schicksal ihrer Kinder forderte. Die Verschwundenen hatten teilweise Kinder, die bei ihren Großeltern aufwuchsen oder auch verschleppt wurden und deren Schicksal nun langsam erfasst wird. Im Interview mit Juan Emilio Basso wird dessen persönliches Schicksal erhoben.

Gernot Lercher: Vorneweg eine persönliche Frage: Wie schwer war es für Sie aufzuwachsen mit dem Bewusstsein dass Ihr Vater ein Opfer der Diktatur war?

Juan Emilio Basso: Schon ganz früh, als ich noch ganz klein war und deshalb keine eigenen Erinnerungen hatte, haben mir meine Großeltern "meine Geschichte erzählt": Meine Mutter war seit ich ein Baby war, bis zu meinem 6. Lebensjahr eingesperrt und dadurch war ich in einer besonderen Situation.

Da gab es nicht einen Moment, wo man mir sagte: „Juan, setz dich her, wir erzählen dir deine Geschichte“, sondern das Realisieren kam mit dem Aufwachsen. Im Vergleich zu meinen Cousins oder Freunden war ich in einer eigenartigen Situation, da ich bei meinen Großeltern aufwuchs, anstatt bei den Eltern, wie die anderen. Dafür mit einem verschwundenen Vater und einer eingesperrten Mutter - weil sie gegen die Diktatur gekämpft hatte. Ich erinnere mich nicht an diese Tatsachen, aber daran, dass die Polizei und das Militär die Bösen waren – das war ganz klar und dass sie meiner Mutter, meinem Vater und meinem Land geschadet haben. Das war ungefähr die Erklärung, die mir meine Großeltern gegeben haben.

Ich hatte aber auch das Glück, dass meine Familie und besonders später meine Mutter mir viel über meinen Vater erzählte. Dadurch hielt ich mich an einer Art von Stolz fest, dass meine Eltern ihre Zeit, Energie und ihr Leben gegeben hatten, um die Gesellschaft in eine solidarische und gleichwertige Gesellschaft für alle Argentinier zu transformieren. Das war die Mischung von Eindrücken die ich von klein auf mitbekommen habe. Aber in jedem Fall, in jeder Familie wurde das verschieden verarbeitet und gehandhabt und darüber gesprochen. Jeder Fall ist eine eigene Geschichte. In meinem Fall hatte ich immer ein Foto meines Vaters, das man mir zeigte und sagte: "Das ist dein Vater". Und manchmal, wenn ich meine Mutter im Gericht von Devoto in Buenos Aires sehen konnte, dann erzählte sie von meinem Vater.

Gernot Lercher: Kann man das vielleicht so verstehen, dass Sie innerlich, auch jetzt als Teil dessen, die Organisation Hijos als eine Art Verpflichtung empfinden, den Kampf, den Ihre  Eltern für Menschenrechte geführt haben, jetzt in einer neuen Form im Jahr 2008 und davor fortzusetzen? Also eine persönliche Verpflichtung, das weiterzuführen, wofür Ihre Eltern gefangen genommen wurden und gestorben sind?

Juan Emilio Basso: Nein, ich fühle Interesse, aber keine Verpflichtung und auch keinen Ärger mit jenen Menschen, die eine ähnliche Geschichte haben, sich aber nicht verpflichten und für eine bessere Gesellschaft einsetzen. Das kann mich zwar stören, aber nicht mehr, als bei irgendeiner anderen Person, die sich nicht dafür einsetzt. Ich glaube mehr an die Überzeugung als an die Bedingungen: In diesem Fall sind wir keine Kämpfer, sondern wir hatten die Voraussetzung, Kinder von Verschwundenen zu sein. Auf jeden Fall ließ uns dies über all diese Dinge Fragen stellen. Es ließ uns auch die Möglichkeit kennen lernen, dass es den Kampf, indem man sich für etwas einsetzt, gibt und dass dies eine Lebensweise ist: die Solidarität, die Bindung – das ist nicht zu leugnen. Aber ich spüre keinen Auftrag, keine Verpflichtung. Mehr noch – meine Adoptivmutter und mein Adoptivvater waren beide militant. Beide waren politische Gefangene und beide litten sehr unter der Diktatur. Mit ihnen diskutierte ich viel über Politik, manchmal waren wir derselben Meinung, manchmal nicht. Auch haben wir alle in verschiedenen Organisationen mitgearbeitet und jeder seine eigenen Erfahrungen gemacht. So glauben wir, dass es gut ist, dass jede Generation versucht ihren eigenen Raum zu schaffen, der mit der Suche und dem Versuch einer anderen Art der Gesellschaft zu konstruieren, zu tun hat.

Ohne Zweifel spielen die persönlichen Lebensgeschichten eine starke Rolle. Ich kann nicht leugnen, dass mich das mit einer Unzahl von Fragen erfüllt hat und mich sensibel machte für den „Schmerz der Anderen“, der in den 60ern und 70ern eine viel gebrauchte Idee, ein Bild oder eine Phrase war. Aber wir sind auch sehr kritisch gegenüber den Taten dieser Generation und so idealisieren wir sie nicht in der Form, dass wir glauben, die Fortsetzer zu sein.

Auf jeden Fall glauben wir, dass es in der gesamten Geschichte Argentiniens Versuche gab, andere Gesellschaftsformen zu bilden, ebenso wie es Versuche gab, dieses zu verhindern, und es  gab Repressionen. Es ist nicht das einzige Mal, dass eine so eiserne Unterdrückung gegen die Sektoren aufkam, die eine andere Form der Gesellschaft suchte, wie in den 60ern und 70ern. Früher gab es viele und in einer Art fühlen wir uns als Teil einer viel größeren Geschichte, die uns vorangeht und in der unter anderem auch die Verschwundenen ihren Platz haben. Aber auch die anderen Menschen unseres Landes oder aus Lateinamerika, welche eine andere Gesellschaftsform gesucht haben, sind in dieser Geschichte enthalten. Und darin sehen wir eine Erfahrung, aus der man das Gute lernen und die Fehler ausschließen soll, denn dazu ist Erfahrung gut: Dies hat nichts gebracht – also wird es nicht wiederholt. Suchen und erschaffen wir eine neue Form.

Gernot Lercher: Jetzt arbeiten Sie unter anderem an Fällen, in denen man versucht, an jene – heute Erwachsenen – heranzukommen, die damals ihren Müttern entrissen wurden. Wie schwierig ist diese Arbeit oder auch zugleich wie erfolgreich? Die Akten scheinen sich ja bei Ihnen zu türmen. Wie sieht die Praxis aus?

Juan Emilio Basso: Die Sucher nach der Geschichte geraubter Kinder oder heute Jugendlicher ist kompliziert und eine schwierige Aufgabe. Denn die Diktatoren, Unterdrücker, Menschen des Genozids haben die Beweise gelöscht, um die Geburtenbücher zu fälschen und diese Kinder als ihre biologisch eigenen zu registrieren. Deshalb ist es nicht einfach zu entdecken, wo es solche Fälle gibt. Meistens beginnt unsere Suche dann, wenn irgendjemand eine Anzeige macht. Meistens sind das anonyme Anzeigen von Menschen die sagen: "Wir sind die Nachbarn von einem Polizisten, dessen Frau keine Kinder bekommen konnte und plötzlich eines Tages im Jahr 1976, 1977 hatte sie ein Kind."

Es ist auch passiert, dass ein Mensch in unserem Alter bemerkt, dass er völlig anders als seine Eltern ist und diese ihm nichts erzählen wollen, ihm kein Foto zeigen können worauf er als Neugeborenes zu sehen ist. Sie haben keine Fotos und da beginnt dieser Mensch Fragen zu stellen. Er weiß schon, dass es die Organisation der Großmütter und die Organisation der Hijos, der Kinder gibt. Es gibt Fernseh- und Radiokampagnen und Künstler die anregen, dass Menschen unseres Alters sich Fragen stellen und manchmal werden Großmütter oder Söhne befragt und das löst eine Untersuchung aus.

Manchmal ist es auch passiert, dass Familien Kinder - aus gutem Glauben heraus-  aus Weisenhäusern adoptiert haben und gar nicht wussten, woher diese kamen. Legal gesehen war alles in Ordnung, aber eines Tages wollten diese Kinder wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind und die Adoptiveltern begleiteten sie auf ihrer Suche. Eine Vielzahl an Fällen kommt auf diese Weise zustande und ihre Adoptiveltern stehen ihnen bei diesen Untersuchungen bei.

Das sind ein paar Beispiele für die Fälle, aber in Realität ist jeder Fall sehr speziell und es tut sich eine Vielfältigkeit an Arbeit und Formen auf, sich derer anzunehmen. Wir machen folgendes: Wir versuchen herauszufinden, was die Person, die die Anzeige macht, uns an Informationen geben kann und sehen, ob wir herausfinden können, wo sie ins Geburtenbuch eingeschrieben worden ist. Wir untersuchen, ob es Fälle von Verschwundenen, Schwangeren gibt, die mit den Daten übereinstimmen könnten. In vielen Fällen, wenn es viel Information gibt und man fast sicher feststellen kann, dass es ein mögliches Kind eines Verschwundenen ist, setzt man rechtliche Schritte, damit gerichtliche Untersuchungen eingeleitet werden, wie unter anderem auch z.B. DNA Proben. Manchmal ist es nicht notwendig, zu Gericht zu gehen, weil die Kinder sich DNA Proben nehmen lassen, die mit einer Blutbank von Familien verglichen wird, die möglicherweise einen Enkel, Neffen, Bruder von Verschwundenen haben. Das ist sozusagen der Schlusspunkt der Untersuchung, wenn eine DNA Analyse gemacht wird um festzustellen, dass dieser Mensch das Kind eines Verschwundenen ist.