Interview mit Viviana Della Siega
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Interview mit Viviana Della Siega, Menschenrechtsstadt Rosario
Viviana Della Siega ist die Koordinatorin des Projektes „Menschenrechtsstadt Rosario“. Als sie zu ihrem zweiten Kind schwanger war, wurde ihr Mann so viele andere Aktivisten verschleppt. Gernot Lercher führte im Rahmen der Dreharbeiten für den Film „Menschenrechtsstädte dieser Welt“ am 9. März 2008 das folgende Interview in El Pozo, einem geheimen Foltergefängnis im Zentrum von Rosario/Argentinien.
Gernot Lercher:
Viviana, wir befinden uns in El Pozo, einem Ort, am dem geheime Folterungen durchgeführt wurden. Was macht die Menschenrechtsstadt, damit es zu Gerechtigkeit nach den Ereignissen der 1970er Jahre kommt?
Viviana Della Siega:
Nun, wir haben den Prozess begleitet, der dazu geführt hat, dass dieser Ort im Jahr 2002 den Menschenrechtsorganisationen zur Leitung übergeben wurde, damit er geöffnet wird und die jüngeren Generationen erfahren, was passiert ist. Es gibt Besuche von Schülerinnen und Schülern und jedes Jahr machen wir einen Kurs für Lehrkräfte, in dem wir die Menschenrechte mit einem ganzheitlichen Ansatz vermitteln. In diesem Kurs transportieren wir aber auch all das, was man unter Staatsterrorismus versteht, damit sie die Lehrer das den Schülerinnen und Schülern mitteilen können. Wir begleiten die Arbeit der Angehörigen wie der Mütter vom Plaza de Mayo, damit sie die Erinnerung an ihre Angehörigen wiedererlangen, mit dem grundlegenden Ziel, dass so etwas nie wieder passiert.
Gernot Lercher:
Sie haben uns gestern erzählt, dass im Augenblick Gerichtsprozesse vorbereitet werden, in denen das aufgearbeitet wird, was in den 1970er Jahren passiert ist. Welche Probleme gibt es mit den Zeugen, denen Ihr Euch gegenüber seht?
Viviana Della Siega:
Ich glaube, dass wirkliche Probleme entstanden sind, als vor eineinhalb Jahren ein sehr wichtiger Zeuge verschwunden ist, der der erste Verschwundene in der Zeit der Demokratie ist. Bis heute wissen wir nicht, was mit ihm passiert ist. Wir wissen auch nicht, mit welchen Unterdrückern wir es beim Prozess zu tun haben werden. Ich beziehe mich auf die Personen, die uns darüber Auskunft geben könnten, wo sich die Babys befinden könnten, die heute natürlich erwachsen sind und die umgebracht wurden. Diese Fälle schauen wie Selbstmorde aus, aber speziell in einem Fall hat der Richter mit Sicherheit festgestellt, dass es eine Ermordung war. Wir haben von den Autoritäten verlangt, dass sie einen Prozess in die Wege leiten, durch den die Sicherheit bei den Prozessen gewährleistet ist. Und zwar sowohl für die Zeugen, wie auch für die Unterdrücker, von denen wir wissen, dass sie in gewöhnlichen Gefängnissen festgehalten werden und nicht an Orten des Militärs oder der Streitkräfte. Es kann natürlich passieren, dass diese als Mitwisser zum Schweigen gebracht werden. Das Schutzprogramm fordern wir sowohl für die Zeugen, wie auch für die Unterdrücker. In all den Jahren haben die Opfer und die Familien der Opfer niemals Repressalien irgendwelcher Art ausgeführt. Wahrheit und Justiz, das wollen wir erreichen. Wir glauben, dass es wichtig ist, dass es zu diesen Prozessen kommt, damit man die Wahrheit erfährt und damit Recht gesprochen werden kann. Wir glauben daher, dass es sehr wichtig ist, dass auch die Unterdrücker lebend zu den Prozessen kommen, damit sich ein Rechtsstaat in Argentinien entwickeln kann. Im gleichen Zusammenhang fordern wir, dass Sicherheitssysteme eingezogen werden, damit nicht das gleiche passiert, was im Fall von Lopez passiert ist, wo die Familie im ersten Moment glaubte, dass er fortgegangen ist, während er tatsächlich entführt wurde.
Gernot Lercher:
Wenn man daran denkt, was ihr als Menschenrechtsstadt macht. Kann man sagen, dass ihr Erfolg habt?
Viviana Della Siega:
Ja, wir glauben schon. In dem Ausmaß, wie wir uns das Ziel unseres Programmes vorstellen, bei dem es darum geht, bei dem es um die Bildung im Bereich der Menschenrechte in einem ganzheitlichen Sinn geht. Nicht in dem Sinn, dass die Menschen die Menschenrechte mit der Erinnerung (an das Passierte), mit der Wahrheit und der Rechtssprechung in Verbindung bringen, sondern in einem ganzheitlichen Sinn, indem ihnen bewusst wird, dass zu den Menschenrechten auch die wirtschaftlichen, die kulturellen und die sozialen Rechte zählen. Wir wollen eine Kultur verändern, die in der Vergangenheit eine Kultur der Autorität und Unterdrückung war. Wir wollen sie in eine Kultur ändern, in der sich jeder als Subjekt der Menschenrechte sieht, die er selbst ausüben kann. Wir meinen, dass die erste Voraussetzung dafür, dass man die Menschenrechte ausüben kann, ihre Kenntnis ist. Und daher ist für uns die Verbreitung und die Bewusstseinsbildung über die Menschenrechte ein wichtiger Teil unserer Arbeit.
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Interview mit Elida Luna, El Pozo
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Interview mit Elida Luna, Erinnerungszentrums El Pozo
Elida Luna ist die Leiterin des Erinnerungszentrums El Pozo in Rosario/Argentinien. In der Zeit der Militärdiktatur verschwanden in Argentinien tausende Menschen spurlos. Sie wurden verhört, gefoltert, festgehalten und ermordet. El Pozo, zu Deutsch der Brunnen bzw. Brunnenschacht, ist einer der geheimen Orte, an dem Menschen gefoltert wurden. Mitten in der Stadt befindet sich dieses Folterzentrum im Keller des Polizeihauptquartiers. Elida Luna leitet heute ein kleines Museum in El Pozo, um damit an die Zeit der Militärdiktatur zu erinnern. Sie selbst war mit dem zweiten Kind schwanger, als ihr Mann verschwand. Gernot Lercher führte am 9. März 2008 mit ihr das folgende Interview in El Pozo im Rahmen der Dreharbeiten für den Film „Menschenrechtsstädte dieser Welt“.
Gernot Lercher:
Wir befinden uns an einem Ort, an dem Ihr Gatte war. Welche Gefühle haben Sie, wenn Sie an diesen Ort kommen?
Elida Luna:
Als ich das erste Mal hierher kam, war es sehr emotional. Wir kamen mit Kollegen von anderen Organisationen, mit Rechtsanwälten etc. Wir gingen durch diese Räume und ich konnte an diesem Tag die Wirklichkeit, dass an diesem Ort so viele Menschen umgebracht wurden, realisieren. Als wir diesen Ort dann im Jahr 2000 erhielten und wir mit den anderen Menschen hier eintraten, mit den Familienangehörigen von Verschwundenen, da begann dann der Schmerz zu wirken. Ich fühlte, dass wir hierher gekommen sind, um unsere Angehörigen zu finden. Wir wussten, dass wir sie nicht finden würden, dass wir aber in der Lage sein würden, anhand von Zeugenaussagen davon zu erzählen, was an diesem Ort in der Vergangenheit passiert ist. Dass wir vom Leben der Verschwundenen erzählen würden, unter ihnen auch Daniel. Ich kam mit einer meiner Töchter, mit Paula, da mein Sohn zu diesem Zeitpunkt bereits in Mexiko lebte. Mein Sohn lernte seinen Vater nie kennen, da ich mit ihm im vierten Monat schwanger war, als sie seinen Vater abholten. Und ich begann, den Tod von Daniel anzunehmen. Das Verschwinden einer Person ist etwas Schreckliches. Wenn sie die „Figur eines Verschwundenen“ schaffen. Die Intention des Militärs war, dass es keine Beweise geben sollte, dass kein Körper, keine Beweise hinterlassen wurden. Psychologisch, emotional ist das schrecklich. Denn wie bringt man zusammen, dass eine Person weg ist, dass man sie niemals mehr wiedersehen wird. Es war schrecklich.
Gernot Lercher:
Um wie viele Menschen handelte es sich damals, die in El Pozo inhaftiert und gefoltert wurden?
Elida Luna:
Es waren ungefähr 2.000 Personen. Viele von ihnen haben überlebt und durch sie haben wir erfahren, was hier passiert ist. Wir wissen durch sie die Namen der Unterdrücker, die Verwicklung der Kirche an diesem Ort – viele von ihnen sind nicht mehr. Wir fordern weiterhin ein, dass wir von ihrem Verbleib erfahren, wir wollen ihre Überreste haben und in Kürze beginnen die Gerichtsverfahren in Rosario, einige haben bereits in der Provinz von Santa Fe begonnen und wir wollen einen Urteilsspruch und wir wollen erfahren, was mit unseren Gefährten passiert ist.
Gernot Lercher:
Was passierte mit den Menschen, die hier und in anderen geheimen Orten eingesperrt waren?
Elida Luna:
Viele von ihnen sind an andere Orte verlegt worden, in andere geheime Gefängnisse. Die große Mehrheit von ihnen, die lebt nicht mehr. Jetzt, nach so langer Zeit sagen wir, sie sind verschwunden und umgebracht worden.
Gernot Lercher:
Ihr Gatte ist verschwunden. Wie kann man als Familie damit leben, dass man nicht weiß, was mit ihm passiert ist, wo seine Überreste sind?
Elida Luna:
Wir waren politisch militant, wir gehörten zu einer der revolutionären Gruppen der damaligen Zeit. Auf der einen Seite musste ich meine Kinder aufziehen, das Leben ging weiter. Ich befasste mich mit diesen Angelegenheiten, erlebte den Terror, blieb in diesem Land, blieb sogar in Rosario und wurde von Menschen, von Freunden solidarisch unterstützt. Aber die Situation war schrecklich, vor allem wegen der Angst, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die Panzer auf den Straßen waren, Zonen besetzt und das Stück Land, auf dem wir lebten, vom Militär, von der Polizei verwüstet worden war. Es gab ständig Kundgebungen, es gab Demonstrationen der Macht mit schweren Waffen, es gab Zonen, in die man nicht gehen konnte. Die Schreckensherrschaft, der Terror war vollständig installiert.
Ich fühlte, dass sie mir einen Teil meines Lebens genommen hatten. Es traf die Familie von Daniel, seine Mutter, seine Schwestern sehr stark. Der Charakter des Verschwindens von Daniel ist, dass sie ihn unter die Exekutivgewalt der Provinz genommen haben, dass er inhaftiert war im Gefängnis von Coronda, dass sie ihn von dort am 28. Oktober, nein im September entführt haben und hierher gebracht haben. Durch die Aussagen von Leuten, die hier waren und die ihn bis zum letzten Augenblick gesehen haben, wissen wir, dass es der 28. Oktober 1976 war. Das ist das Datum, das wir haben und wir wissen, dass sie ihn mittels Schlägen in einem kleinen Raum umgebracht haben, den sie nach dem Vorbild von den Elendsvierteln Brasiliens „Favelas“ nannten. Vor allem in den Räumen im oberen Teil von „El Pozo“ muss man sich vorstellen, dass dort 30, 40 ja sogar 50 Personen waren, die dort zusammengeballt, aufgegeben waren, die keine Möglichkeit hatten, auf die Toilette zu gehen. Die Frauen wurden hier missbraucht, ich weiß nicht, ob nicht auch die Männer missbraucht wurden, die Menschen wurden einfach roh behandelt. Der Chef des Folterzentrums hier war Agustín Feced. Und wenn sie wussten, dass jemand in der Lage war, eine grausame Unterdrückung auszuüben, dann brachten sie ihn hierher. Es war absolut mörderisch. Es gab eine Serie von Ermordungen, die als staatlicher Terror bezeichnet werden konnten. Zum Beispiel gab es hier einen Mann namens Lofiego, dem nur mehr wenig gefehlt hat, um Arzt zu sein. Er arbeitete hier, und schaute, dass die Kollegen, die gefoltert wurden, nicht während der Folter starben. Wenn das Herz zu versagen drohte, machten sie eine Pause. Wir wissen anhand der Zeugenaussagen, dass dieses geheime Folterzentrum des Geheimdienstes eines der schrecklichsten in der Region war. Für die gesamte Zone war es La Esma, das eine hohe Bedeutung hatte.
Gernot Lercher:
Haben Sie die letzten Überreste Ihres Gatten erhalten?
Elida Luna:
Nein, die wurden uns nicht übergeben. Wir wissen nicht, wo sie sind. Wir wissen nichts darüber, bisher haben sie auch noch nicht auf unsere Anfragen geantwortet, wir wissen nichts. Und weil Sie mich gefragt haben, wie man damit weiter leben kann, kann ich nur sagen, dass man weiterkämpft, dass man militant bleibt, dass man die Anklage voran treibt. Eine unserer Ernüchterungen ist, dass es eine wirkliche Gerechtigkeit nicht gibt, weil es viele ähnliche Fälle gibt, die dazu dienen, die Militärs zu retten, die in dieser Zeit tätig waren. Was grundsätzlich ist, ist das Bewusstsein und Wissen der Menschen. Dass die Menschen wissen, was passierte und wer die Menschen waren, die verschwunden sind.
Gernot Lercher:
Danke für das Gespräch
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- Menschenrechtsstadt Rosario
- Vorstellung des Folterzentrum El Pozo
Interview mit Botschafter Dr. Walther Lichem
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Interview mit Botschafter a.D. Dr. Walther Lichem
Botschafter a. D. Dr. Walther Lichem war während seiner Berufstätigkeit immer wieder für internationale Angelegenheiten und Menschenrechte verantwortlich. Er ist Vorstandsmitglied der Peoples Momevement for Human Rights Education und einer der Verfechter der Menschenrechtsstadt-Idee. Gernot Lercher vom ORF Steiermark interviewte ihn am 27. Oktober 2007 in Schloss Seggau bei Leibnitz, wo sich MenschenrechtsaktivistInnen aus der ganzen Welt zu einem Workshop trafen.
Gernot Lercher:
Treffen wie dieses in Seggauberg bieten immer wieder die Möglichkeit, Bilanz zu ziehen über eine Idee wie die Idee der Menschenrechtsstädte, die in verschiedenen Ländern auf unserer Erde implementiert wurden. Am heutigen Tag im Jahr 2007 würden Sie sagen, dass Sie über dieses Projekt Menschenrechtsstädte eine positive Bilanz ziehen können?
Walther Lichem:
Wir befinden uns am Weg. Die ersten Schritte haben noch keine große Distanz zurückgelegt. Aber was doch immer klar war, ist die Vorstellung, wo wir hin müssen. WO wir hin müssen, um eben mit dem zu recht zu kommen, was wir als Herausforderung des 21. Jahrhunderts sehen müssen. Ein friedliches, harmonisches, vermutlich auch freudvolles Zusammenleben unter dem, was wir heute in der neuen Sprache als Anderheit verstehen. Die nicht nur als Mensch gewordene Anderheit, sondern die überhaupt Anderheit, von Coca Cola bis zu Kebap.
Gernot Lercher:
Würden Sie sagen – sie haben ja gesagt, es ist ein erster Schritt, es sind erste kleine Schritte getan – man steht am Anfang einer Agenda „Menschenrechte“ im 21. Jahrhundert?
Walther Lichem:
Es ist eine neue Agenda. Schauen Sie, ich habe vor über zwanzig Jahren Ost-West-Verträge verhandelt. Die leichtesten Verhandlungen waren darüber, was sein soll. Bei der Schlussakte von Helsinki, wo wir zum ersten Mal niedergeschrieben haben, was wesentlich ist für den internationalen, das heißt zwischenstaatlichen Frieden. Aber die zweite Ebene, die haben wir dann schon fast nicht geschafft. Wo wir dann sagen, aber schaut`s her, ihr erfüllt ja das gar nicht, was ihr unterschrieben habt. Das, was wir die adjukative Ebene oder Agenda nennen. Menschenrechte .... da war das ähnlich. Zuerst die Normen setzen und dann sagen, das erfüllt ihr nicht. Aber die dritte Ebene – und da müssen wir hin – ist die Befähigung ganzer Gesellschaften und jedes einzelnen Menschen, im Verständnis der eigenen menschlichen Würde und über das Verständnis der menschlichen Würde des anderen. Und das definiert dann das ganze Verhältnis einer Gesellschaft. Denn wenn wir schauen, wo Gewalt heute stattfindet, dann findet sie statt in zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen gedemütigt wird, d.h. in Beziehungen, in denen die menschliche Würde verleugnet wird. Und wir müssen eines im Auge behalten. Ob wir jetzt Mauern bauen wollen oder Stacheldraht ziehen wollen um unsere Wohlstandsgesellschaft. Wenn in einer Beziehung der wechselseitigen Abhängigkeit leben und immer mehr leben werden. Und eine wechselseitige Abhängigkeit bedarf einer neuen menschlichen Beziehungsfähigkeit, dann geht`s. Menschenrechtsstädte, die ersten Schritte. Dann ist es eigentlich der ideale Schritt. Auf Stadtebene. Wenn man einerseits die Persönlichkeit des Nachbarschaftslebens hat. „Ich kenn den Stadtrat, ich kenn das Mitglied im Gemeinderat. Ich kenn vielleicht sogar den Bürgermeister, ich hab ihn gekannt, als er noch in der Schule war.“ Und es sind doch staatliche Strukturen hier. Das gibt’s auf der nationalen Ebene dann nicht mehr. Weil die Politik ist in der Stadt persönlich. Und deshalb können wir in dem Miteinander von Bürger und staatlicher Struktur auf der Ebene der Stadt am besten beginnen. Aber das, was wir jetzt die Entwicklung dieser gesellschaftlichen Befähigung nennen, muss alle Menschen einschließen. Alle Menschen auf der ganzen Welt und das muss zum markanten kulturellen Element der Welt werden.
Gernot Lercher:
Hier will ich jetzt buchstäblich einhaken. Denn Sie als Österreicher waren, wenn man soll will, Ideengeber für die Menschenrechtsstadt Graz. Das hat sich damals auch sehr angeboten. Graz war zur Kulturhauptstadt 2003 erklärt worden, knapp davor kam es dann dazu, dass Graz sich selbst zur Menschenrechtsstadt erklärte, ein einstimmiger Beschluss im Gemeinderat. Das war damals nur möglich, weil es im Gemeinderat und in der Stadt eine starke Basis an Gruppen, an Organisationen an Initiativen in der steirischen Landeshauptstadt gegeben hat. Jetzt sind 6 Jahre verstrichen. Sie werden ihr Kind – wenn man so sagen möchte – sicher ein bisschen aus der Distanz beobachtet haben. Wie hat sich die Menschenrechtsstadt Ihrer Meinung nach entwickelt in der Zwischenzeit?
Walther Lichem:
Es geht langsam. Aber als ich in Graz das letzte Mal in ein Taxi gestiegen bin und den Taxichauffeur provoziert habe und ihn gefragt habe, wissen Sie eigentlich, dass Graz Menschenrechtsstadt ist? Sagt er „ja freilich“. Frag ich, können Sie mir das erklären, was das bedeutet? Er konnte es mir erklären. Das ist ein Fortschritt. Aber schauen Sie, für Graz hat sich ja aus meiner bescheidenen Perspektive – die Frage gestellt, welches ist unsere Identität als Stadt. Stadt der Volkserhebung oder haben wir diese Zeit, diese Identität doch beseitigen und ersetzen können durch eine neue Identität, die uns in die Zukunft führt? Und ich sag das absichtlich so. Menschenrechtsstadt zu sein, das ist ein Programm für die Zukunft. Das ist nichts, was ich erreiche. Aber abgesehen davon, die Grazer Erklärung zur Erreichung der Menschenrechtsstadt gilt heute als Modell.
Gernot Lercher:
Ein Modell, von dem sich aber doch – in der europäischen Union zumindest – viele scheuen, es zu übernehmen? Kann es sein, dass gerade in einer Wohlstandsgesellschaft, wie es die europäische zumindest zu sein scheint, ein bisschen der Mut fehlt, dieses „Scheinwerferlicht der Menschenrechte“ auf sich selber zu drehen um immer wieder dann, wenn etwas nicht so gut läuft, damit konfrontiert zu sein „Moment mal, so könnt ihr das nicht machen, ihr seid ja Menschenrechtsstadt“. Dass man sich schon im Vorhinein denkt, da lass ich besser die Finger davon, wer weiß, wie das ausgeht?
Walther Lichem:
Für mich ist das die wesentliche Errungenschaft einer menschlichen Gemeinschaft, dass alle in dieser Gemeinschaft um ihre menschliche Würde wissen und sie verstehen und damit eben wiederum impliziert die des anderen verstehen. Die des anderen, das ist entweder der, dem das Auto gehört, das angezündet wird in Paris, oder in Marseille, oder der, der es anzündet. Und wir dürfen nicht in der ganzen europäischen Diskussion die Frage der Offenheit vergessen. Das ist ja nicht nur eine Frage der Offenheit von Staatsgrenzen, das ist eine Frage der Offenheit von Gesellschaften. Und noch einmal, es geht nicht darum, perfekt zu sein. Die Menschenrechtsstädte werden auch in Zukunft imperfekt sein. Aber diese Agenda-Dimension unserer Zukunft, zu wissen, wie ich mich mit dem anderen in Beziehung setze, wie ich den anderen hereinnehme, selbst in meine Identität. Denn wir haben ja mehr als eine Dimension der Identität. Das ist ja auch ein Mythos des ausgehenden 18., 19. Jahrhunderts, dass der Mensch reduziert werden kann auf nur eine Identität. Und dann misst man vielleicht noch einen Schädel und die Nase. Wir sind – und da kann ich nur ein Kärntner Sprichwort, ein Slowenisches zitieren: „so viele Sprachen Du sprichst – so oft bist Du Mensch“ – und das haben die kärntnerisch-slowenischen Bauern kapiert. Wobei Sprache nicht nur linguistisch zu verstehen ist, sondern als Beziehungsfähigkeit.
2. Teil des Interviews folgt!
Interview mit Satya Brata Das
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Interview mit Satya Brata Das
Der angesehene Journalist und Herausgeber Satya Brata Das ist einer Initiatoren der Menschenrechtsstadt Edmonton. Aus Indien stammend hat er sich in der kanadischen Provinz Alberta sesshaft gemacht. Er ist Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Cambridge Strategies Inc. Gernot Lercher vom ORF Studio Steiermark führte mit ihm im Rahmen der Dreharbeiten für den Film „Menschenrechtsstädte dieser Welt“ am 17. Oktober 2007 das folgende Interview in Schloss Seggau.
Gernot Lercher:
Herr Das, Sie sind als erfolgreicher Autor, preisgekrönter Kolumnist und Experte in sozial-, wirtschafts- und außenpolitischen Fragen ein Meinungsbildner in Canada, sie sind außerdem der Motor hinter der Menschenrechtsstadt Edmonton. War es schwer, den Stadtrat und die Kommunalverwaltung dazu zu überreden, Edmonton in das Rampenlicht der Menschenrechte zu stellen?
Satya Das:
Der Stadtrat und die Verwaltung haben damit gar nichts zu tun, die Initiative dazu kam vielmehr von den Bürgern selbst. Das Besondere an Edmonton liegt darin, dass es eine Immigrantenstadt ist, die bereits zuvor sehr pluralistisch, offen und vielfältig war. Bei einer Menschenrechtsstadt geht es also nicht darum, Neues zu erfinden, sondern es muss lediglich der Rahmen geschaffen werden, damit alle, die in irgendeiner Weise mit den Menschenrechten zu tun haben – selbst wenn sie dieses Wort nicht verwenden – sehen können, was die anderen machen, sodass sie zusammenkommen können, um Verbesserungen herbeizuführen. Das heißt, der Stadtrat und der Bürgermeister beteiligen sich mit ihren eigenen Initiativen, die gar nicht so sehr Teil des Projektes Menschenrechtsstadt sind, denn die Idee der Menschenrechtsstadt ist bloß das beschreibende Rahmenwerk, ist im Grunde einfach eine andere Art, die Stadt zu sehen.
Gernot Lercher:
Lassen Sie mich die Frage anders formulieren: Wie blicken Stadtverwaltung, Bürgermeister und Kommunalverwaltung auf Edmonton als Menschenrechtsstadt, die als solche von den Bürgern gegründet wurde und nicht von ihnen?
Satya Das:
Es geht nicht so sehr um formale Dekoration, denn wir machen ja ohnehin so Vieles. Die Frage lautete vielmehr: „Wie richten wir die Aufmerksamkeit auf das, was wir machen?“ Denn die Menschenrechtsstadt ist bloß ein Katalysator, bloß eine andere Art, die Dinge zu betrachten. Zum Beispiel hat in unserer Stadt der Bürgermeister als erster in Nordamerika eine Charta für die indigene Bevölkerung unterzeichnet, und diese Charta, die vor zwei Jahren unterzeichnet wurde und nun von einem Komitee umgesetzt wird, hat die uneingeschränkte Einbindung indigener Menschen in alle Aspekte des Lebens in Edmonton zum Ziel. Man muss dazu sagen, dass in Edmonton – wie in Kanada generell – immer noch eine riesige Kluft zwischen der indigenen Gruppe und der restlichen Bevölkerung ist. Mit der restlichen Bevölkerung meine ich Menschen, die seit dreihundert Jahren in Kanada leben und zu jenen dazu gestoßen sind, die das Land seit 12.000 Jahren besiedeln. Das heißt, in der 12.000 Jahre alten Geschichte Kanada schwelt ein andauernder Konflikt zwischen den ersten Kanadiern und den späteren Ankömmlingen. Und diese Sicht der Dinge haben wir uns angeeignet. Aber obwohl die Rechte der Indigenen grundsätzlich im föderativen Statut verankert sind, hat es sich der Bürgermeister Steven Mandell, der gerade mit einer Zweidrittel-Mehrheit wiedergewählt wurde, nicht nehmen lassen, eine Charta für die Integration der Indigenen zu unterzeichnen. Selbst wenn man ihm gesagt hätte, „diese Sache ist wichtig und in Einklang mit dem Konzept der Menschenrechtsstadt“, hätte er geantwortet: „Schön und gut, aber als Bürgermeister betrachte ich es als meine Aufgabe, die Menschen zusammenzubringen.“
Ähnlich ist es im Fall des Schulsystems: Wir bieten vertiefende Kurse in zehn verschiedene Sprachen an. Niemand verlangt das von einer Menschenrechtsstadt. Wir machen es einfach.
Gernot Lercher:
Gehen wir das vielleicht einmal durch und beginnen gleich mit den indigenen Gruppen: Wie werden sie in ihren Augen in Edmonton behandelt?
Satya Das:
Zu allererst möchte ich vor der Bezeichnung „sie“ warnen, denn das schafft bereits eine Form von Distanz. Unsere indigene Bevölkerung ist mit klaren Nachteilen konfrontiert: Zum einen wurden durch die kanadische Assimilationspolitik zumindest vier Generationen von ihren Gemeinschaften getrennt und in Internaten gezwungen, eine fremde Sprache zu lernen. Für das Sprechen der eigenen indigenen Sprache wurde man bestraft. Normalerweise wurden diese Schulen von der Kirche und anderen Einrichtungen geleitet. Die überlegene Kultur hatte beschlossen, dass die indigene Kultur barbarisch sei und ausradiert werden müsse. Es kam also zu einer radikalen, systematischen Entwurzelung der indigenen Kultur. Was zerstört worden ist, kann man nicht ersetzen. Und da stellt sich die Frage: Wie kann man dann etwas erschaffen, das Würde verleiht – Würde, die aus der Identität entsteht – etwas, das diese Würde nährt und das Menschenrecht auf eigene Entwicklung aufrechterhält? Das ist unsere Perspektive. Aber innerhalb dieser sehen wir, dass sehr viel Rassismus herrscht, es gibt sehr viel Diskriminierung, es gibt viele Diskrepanzen zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit, und es geht nun darum, diese systematisch zu beseitigen. Was wir zum Beispiel getan haben, ist Cree im Curriculum der High School als zweite Sprache zu verankern, in der alle Kurse besucht werden können. Außerdem gibt es eine High School, deren Fundament die indigene Kultur ist und die nicht ausschließlich der indigenen Volksgruppe offen steht, sondern auch anderen Kanadiern. Was dort aber unterrichtet wird, sind die indigene Kultur und Philosophie, die entsprechende Lebensanschauung und gleichzeitig das normale Schulcurriculum. Das Hauptproblem für indigene Menschen ist der Schritt in die Schule und damit einhergehend wiederum die fundamentale Zerstörung der Identität der vergangenen 150 Jahre. Um solche Dinge wieder aufzubauen, braucht es eine indigene Charta, die Beschäftigung anregt, Diskriminierung abbaut, und leistbare und angemessene Wohnverhältnisse gewährleistet. Die sicherstellt, dass Menschen, die durch diesen fundamentalen Identitätsverlust dem Drogenkonsum zum Opfer gefallen sind, in der Lage sind, ihre Existenz wieder aufzubauen. Es braucht also eigentlich eine Reihe von Maßnahmen vieler verschiedener Behörden in den Städten, die das Problem der Integration in die Hand nehmen. Man darf das Problem nicht unterschätzen oder es gar ignorieren. Das geht über die Fähigkeit zu Toleranz im Sinne von „ich toleriere dich, solange du da unten bleibst“ hinaus.
Gernot Lercher:
Könnte man sagen, dass es bereits ein Fortschritt ist, dass dieses Thema eingehend diskutiert wird?
Satya Das:
Natürlich ist es ein Fortschritt. Aber wenn man sich die Situation der indigenen Bevölkerung ansieht, dann kann niemand in Kanada reinen Gewissens behaupten, dass die Ureinwohner voll integriert seien. Vielmehr sollte eine Integration in umgekehrter Richtung stattfinden. Wir versuchen immer, die indigenen Gruppen in die restliche Kultur zu integrieren, während doch auch wir anderen uns in die indigene Kultur integrieren sollten. Und diese Erkenntnis, dass es ein interkulturelles Lernen geben muss, setzt sich allmählich durch. Es geht nicht darum, die indigenen Gruppen einfach an der „etablierten“Kultur teilhaben zu lassen, sondern darum, wie wir eine gemeinsame Kultur aufbauen können, die den Konflikt hinter sich lässt und die beiden Völker vereint.
Gernot Lercher:
Kanada ist wahrscheinlich das Land mit der größten Einwanderungsrate aus allen Teilen der Welt. Sie selbst haben indische Wurzeln und sind mit zwölf Jahren nach Edmonton gekommen. Wie geht die Menschenrechtsstadt Edmonton mit der Integration dieser Immigranten um?
Satya Das:
Diesem Thema wird eigentlich keine große Aufmerksamkeit zuteil, denn das Hauptproblem von Edmonton liegt in der Abspaltung städtischer Indigener. Es geht vor allem um Jugendliche und Kinder mit armem und unsicherem Hintergrund, die von häuslicher Gewalt gefährdet sind. Dies sind die zwei größten Probleme. Die Frage der Ansiedlung und des Sesshaft Werdens ist eine universelle. Man kann spezifische Gegenden heranziehen, in denen diverse Probleme der Immigranten gelöst werden müssen, aber es läuft immer wieder auf Integration und Pluralismus hinaus, und in vielen Fällen liegt das Problem ganz einfach darin, dass jene Immigranten, die als letzte kommen, die ärmsten sind. Unabhängig davon, ob die Wirtschaft boomt und Vollbeschäftigung herrscht, liegt das größte Problem vieler Immigranten in der Unterbeschäftigung, es liegt darin, Arbeit zu finden, die dem Können entspricht. Es gibt große Schwierigkeiten in der Anerkennung von Qualifikationsnachweisen. So haben Sie etwa einen Hochschulabschluss und müssen trotzdem Taxi fahren. Aber es liegt nicht so sehr daran, dass es ein Immigrationsland beziehungsweise eine Immigrationsstadt ist und es gibt auch keine dominante Gruppe, die sich gegen die Immigration sträuben würde, sondern es wird vielmehr innerhalb der etablierten Gesellschaft diskutiert, wer wo wann eingegliedert werden soll. Es gibt also viele Immigranten und es muss noch viel geschehen. Aber trotz allem liegt unser größtes Problem im Konflikt und in der Handlungsträgheit rund um die indigene Kultur, die wir verdrängt haben und immer noch verdrängen.
Gernot Lercher:
Sehen Sie hier ein Licht am Ende des Tunnels?
Satya Das:
Ich würde darin kein großes Problem sehen, denn Immigration und Pluralismus sind ein natürlicher Teil dessen, was uns ausmacht. Es gibt zwar ungelöste Fragen, aber es gibt kein grundsätzliches Problem. Es gibt in unserer Gesellschaft keine Ablehnung gegenüber der Immigration, denn letzten Endes sind wir alle Immigranten und müssen einander helfen. Und natürlich gibt es in diesem Rahmen Probleme, die gelöst werden müssen. Die übergreifende Frage der Integration wird eher auf individueller Ebene angegangen, ist aber auf der breiten gesellschaftlichen Basis kein großes Thema.
Gernot Lercher:
Und in Bezug auf das Problem der Indigenen?
Satya Das:
Da sehe ich durchaus Chancen, aber es bleibt eine Frage des fortschreitenden, lebenslangen Lernens. Denn wie lässt sich Fortschritt überhaupt messen? Als ich zum Beispiel an der Universität von Alberta war – das muss jetzt über dreißig Jahre her sein – gab es vielleicht fünf oder sechs Cree Studenten. Heuer waren es 1.500! Das Licht am Ende des Tunnels, wenn Sie so wollen, liegt im Lehren und in der Akzeptanz von Fähigkeiten, und das muss auf der Basis von Würde und Respekt geschehen.
Gernot Lercher:
Sie haben, wie bereits erwähnt, Ihre Wurzeln in Indien und sind mit zwölf Jahren nach Kanada gekommen. Prädestiniert Sie das für ein Projekt wie das einer Menschenrechtsstadt?
Satya Das:
Nein, eigentlich nicht. Es ist mehr ein individuelles Interesse. Wie gesagt, meine Motivation lag darin, diesen Gedanken der Gesellschaft zu vermitteln. Mich hat Walther Lichem bei einer Konferenz auf die Idee gebracht, und die haben wir dann gemeinsam den knapp 150 Teilnehmern der Konferenz vorgestellt, sie gefragt, ob sie das Projekt unterstützen würden, und alle waren begeistert. Das war für mich der Startschuss. Wir haben nichts überstürzt, sondern sind die Dinge in evolutionärer Weise angegangen, Schritt für Schritt. Zuerst haben wir ein Lenkungskomitee eingerichtet, dann haben wir evaluiert, wo die Probleme liegen. Jetzt haben wir verschiedene Komitees, die sich mit den Problemen auseinandersetzen und Lösungen suchen. Es geht also vielmehr darum, die diversen Ämter, Institutionen und Akteure zusammenzubringen. Letzten September haben wir ein Trainerprogramm gestartet, indem den Trainern das Rahmenwerk der People’s Movement of Human Rights Education PDHRE beigebracht wird. Diese Leute brachten und bildeten wiederum andere Leute aus; darunter sind welche, die sich mit dem HI-Virus auseinandersetzen, solche, die Schwule und Lesben vertreten, Leute, die andere Gruppen vertreten oder Experten auf verschiedenen Gebieten sind, andere arbeiten im Unterrichtsbereich und so weiter. Diese Idee, die Trainer in der Methodik des PDHRE auszubilden, wird über einige Jahre laufen, die Absolventen werden wieder andere ausbilden, und auf diese Weise bauen wir die Menschenrechtsstadt. Sehen Sie, wenn wir uns über den Stadtrat und seine Unterstützung unterhalten, dann wird das ganze zu einer reinen Medaillenverleihung. Es kostet einen Politiker nichts, die Menschenrechtscharta zu unterzeichnen. Aber das Motto „Bitteschön, ich habe die Menschenrechtscharta unterzeichnet und die Medaille bekommen, kann ich gehen?“ funktioniert so nicht. Es geht um die Ankündigung eines Anfangs. Wir setzen etwas in Gang. Wir haben die Trainer ausgebildet und ihre Ansichten geändert. Doch im Grunde geht es nicht so sehr darum, Ansichten zu ändern, sondern darum, etwas in die Hand zu nehmen, das die Menschen bereits als natürlich und gut betrachten, und es in neue Worte zu kleiden.
Gernot Lercher:
Und man sollte nicht zulassen, dass das Konzept der Menschenrechtsstadt als Etikett missbraucht wird.
Satya Das:
Auf keinen Fall, denn das würde das eigentliche Ziel untergraben. Es gibt viele verschiedene Bewegungen. Aus diesem Grund müssen wir uns stets vor politischer Vereinnahmung hüten. Das letzte, was ist wollen, ist, den Politikern eine Plattform zu bieten. Worum es uns geht, ist ein Wandel der Gesellschaft!
Gernot Lercher:
Mittlerweile gibt es siebzehn Menschenrechtsstädte – in den verschiedensten Ländern der Welt mit den verschiedensten Problemen. Glauben Sie, dass diese Städte voneinander lernen können, oder sind die Probleme so spezifisch, dass jeder selber klarkommen muss? Inwiefern ist der Informationsaustausch sinnvoll?
Satya Das:
Der Austausch ist sehr wichtig. Es darf nicht „entweder oder“, sondern „sowohl als auch“ heißen. Natürlich macht jeder seine eigenen Erfahrungen, aber indem wir diese Erfahrungen teilen, lernen wir voneinander. Manche Erfahrungen werden in unserem kulturellen Kontext verwertbar sein, andere wiederum nicht. Aber der Kernaspekt einer jeden Menschenrechtsstadt liegt darin, dass, obwohl die Menschenrechte ein universales Gut darstellen, immer noch die Vertreter der jeweiligen Kultur selbst entscheiden sollten, welche Form sie diesem Gut geben. Es stellt sich die Frage, wie lernen wir also voneinander, wie lernen wir in unseren eigenen Gemeinschaften? Es bringt nichts, sich in Muster, die von außen kommen, zu pressen. Man muss den Erfahrungsschatz, der bereits existiert, ausweiten. Es weiß doch jeder, was Menschenrechte sind. Bei einer Menschenrechtsstadt geht es darum, diese in den Blickpunkt zu rücken und Perspektiven zu eröffnen. Deshalb sagen wir, „du musst deine Menschenrechte kennen, um sie einfordern zu können.“ Wenn du zum Beispiel in ein Krankenhaus gehst, dann tut dir dort niemand einen Gefallen, wenn er dich medizinisch versorgt, sondern du nimmst das Menschenrecht auf Gesundheit in Anspruch, das dir auch zusteht und in der Charta der Vereinten Nationen steht, die das Fundament der Menschenrechte bildet. Und es ist das Geburtsrecht des Menschen, ohne Angst zu leben. Wenn nun jemand diese Rechte nicht einräumt, dann geht es nicht so sehr um einen Verstoß gegen die Menschenrechte, sondern um einen Verstoß gegen die menschliche Verantwortung. Denn es liegt in unserer individuellen, gegenseitigen Verantwortung als menschliche Wesen. Wenn ich Macht habe und jemanden sehe, der machtlos ist, dem als Menschen die fundamentalen Geburtsrechte verweigert werden, dann verletze ich meine menschliche Verantwortung gegenüber dieser Person, wenn ich nichts dagegen unternehme. Das ist das Rahmenwerk, das wir der Immigrationsstadt geben wollen. Was ist meine persönliche Verantwortung? Und wenn ich in der Lage wäre, sie wahrzunehmen, warum nehme ich sie nicht wahr?
Gernot Lercher:
Das heißt, wir sind also alle verantwortlich...
Satya Das:
...füreinander.
Gernot Lercher:
...und nicht bloß in Form der einen oder anderen Initiative?
Satya Das:
Es geht wirklich um das Fundament dessen, was uns menschlich macht. Wir sind in der christlichen Tradition die Sprachrohre unserer Brüder. Und was braucht es, um das umzusetzen? Menschen, Brüder und Schwestern
Gernot Lercher:
Vielen Dank für das Gespräch!
Links:
- Menschenrechtsstadtprojekt Edmonton
- Cambridge Strategies Inc.
- The People's Movement of Human Rights Education
Übersetzung: Mag. Miha Tavcar, scriptophil - die textagentur
Interview mit Dr. Nedim Ademovic
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Interview mit Dr. Nedim Ademovic
Dr. Nedim Ademovic hat in Graz und Sarajevo Rechtswissenschaften studiert. Er ist am Verfassungsgerichtshof in Sarajevo als Leiter der Menschenrechtskommission tätig. Gernot Lercher vom ORF Landesstudio Steiermark hat mit ihm dieses Interview am 17. Mai 2007 in Sarejevo im Rahmen der Dreharbeiten für den Film „Graz – Stadt der Menschenrechte“ gehalten.
Gernot Lercher:
Sie haben in Graz das Studium der Rechtswissenschaften absolviert, welche Empfindungen hat man, wenn man an das Studium damals zurückblickt?
Nedim Ademovic:
Heute, sieben Jahre nachdem ich wieder in Sarajevo lebe, denke ich, dass alle Studenten, die aus Bosnien Herzegowina damals zum Studium nach Österreich gekommen sind, auch Flüchtlinge waren. Egal, ob sie diesen Status formell hatten oder nicht. Es gab damals nicht nur einen Kampf um das Studium, um das Leben, um die Lebensmittel, sondern auch einen Kampf in der Sorge und Unruhe um die Familie, Verwandten und Bekannten und das Vermögen, das sie in Bosnien zurückgelassen hatten und natürlich einen Kampf um eine eventuelle Rückkehr. Ich glaube, dass die Studenten damals wirklich ein Doppelleben führten. Nicht nur das Studium als Studenten, sondern auch als Menschen, die große Probleme wegen des Krieges hatten. Trotz dieser Schwierigkeiten finde ich, dass das Studium sehr viel geholfen hat. Auf der einen Seite – psychologisch zumindest – finde ich, dass das Studium die Studenten zumindest vorübergehend von diesen schwarzen Gedanken abgehalten hat. Auf der anderen Seite haben die Studenten die Möglichkeit gehabt, etwas zu studieren, das ihnen in Zukunft nicht nur in Bosnien, in Österreich sondern in Zukunft überall in der Welt helfen könnte. Und das sind zwei positive Sachen. Letztendlich habe ich in Graz studiert und Graz ist eine wunderschöne Stadt, nicht nur für das Studium, sondern auch für das Leben. Diese Zeit erinnert mich an die Bekannten, an die Freunde, an die Sprache, die ich erlernt habe und natürlich an die Gebräuche und an die Sitten, die ich erlernt habe.
Gernot Lercher:
Sie tragen, wenn man so sagen darf, Graz in ihrem Herzen?
Nedim Ademovic:
Natürlich, natürlich, trotz all der Schwierigkeiten, die ich damals hatte.
Gernot Lercher:
Nun bekleiden Sie hier als Leiter der Menschenrechtskommission am Verfassungsgerichtshof ein wichtiges Amt. Mit welchen Fällen haben Sie zu tun?
Nedim Ademovic:
Der Verfassungsgerichtshof hat wie viele Verfassungsgerichtshöfe verschiedene Zuständigkeiten. Eine der Zuständigkeiten ist der Schutz der Menschenrechte. Wir behandeln die Fälle im Bezug auf die europäische Menschenrechtskommission als letzte Instanz im Staat. Falls jemand mit unserer Entscheidung nicht einverstanden ist, hat er die Möglichkeit, sich später an den europäischen Gerichtshof zu wenden.
Gernot Lercher:
Sie haben angedeutet, Verfahren können sehr lange dauern. Worin liegt ihr Bestreben in dieser Funktion?
Nedim Ademovic:
Wir sind nur ein Gericht, aber wir sind kein gewöhnliches Gericht. Wir beschäftigen uns mit Menschenrechten und wir versuchen, menschlich zu sein. Wir versuchen den Menschen zu helfen, in jeder Situation, damit sie bekommen, was sie bekommen müssen.
Gernot Lercher:
Gehört dazu auch das Recht auf einen schnellen Abschluss ihres Verfahrens?
Nedim Ademovic:
Natürlich, das ist nur ein Problem, das wir in Bosnien-Herzegowina haben, die Länge der Verfahren. Manchmal dauern die Verfahren in Bosnien fünf, zehn oder fünfzehn Jahre sogar – aber das ist überall in Europa so. Wir haben aber Fälle, die es in Europa in dieser Form nicht gibt. Das sind Fälle in Folge des Krieges. Viele Leute können nicht zurückkehren in ihre Häuser, in ihre Wohnungen. Sie können ihr Vermögen nicht zurückbekommen. Oder manche Leute sind noch immer vermisst und die Familien, die Verwandten können die Körper nicht finden. Und in dem Sinne versuchen wir einfach einen Beschluss zu fassen, etwas zu befehlen dem Staat und zu unternehmen, was notwendig ist, um diesen Leuten zu helfen.
Gernot Lercher:
Das heißt auch, Druck zu machen?
Nedim Ademovic:
Das bedeutet einen Beschluss, indem wir einen Befehl anordnen, ein Verfahren zu beenden, in einem bestimmten Zeitraum, zum Beispiel in drei Monaten, sechs Monaten, je nachdem, wie schwierig der Fall ist.
Gernot Lercher:
Wie würden Sie jetzt, im Jahr 2007, die Menschenrechtssituation in Bosnien beurteilen?
Nedim Ademovic:
Das ist eine interessante Frage. Im Vergleich zur Situation, als das Dayton Friedensabkommen 1995 abgeschlossen wurde, ist die Situation viel, viel besser. Aber im Vergleich mit den europäischen Staaten ist die Situation – ich will nicht sagen katastrophal, aber sehr schlecht. Bosnien-Herzegowina war damals ein Rechtsstaat mit sehr starken sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechten. Heute ist das Bosnien-Herzegowina nicht. Ein Grund dafür ist, dass der Staat wirtschaftlich sehr schwach ist. Und ohne finanzielle Möglichkeiten, ohne finanzielle Unterstützung gibt es keine Möglichkeiten, einen Sozialstaat zu bauen. Deswegen ist die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Die durchschnittlichen Löhne, Gehälter und Renten sind sehr niedrig. Die Menschen kämpfen um ihre Existenz und das kann man überall in Bosnien-Herzegowina sehen. Die Versicherung ist auf einem ganz niedrigen Niveau. Auf der anderen Seite, seit wir die Demokratie haben, sind die bürgerlichen und politischen Rechte auf einem anderen Niveau. Heute, wo es die Demokratie gibt, könnten die Leute alles Mögliche sagen, können sogar den Präsidenten beschimpfen. Aber sie haben keine Arbeitsstelle, haben kein Haus, haben keine Sicherheit. Früher konnten sie nicht alles so offen sagen, hatten aber eine Arbeit, hatten ein Haus. Und das sagt etwas. Ein Grund dafür liegt auch in unserer schlechten Verfassung. Wie Sie wissen, haben wir keine demokratische Verfassung sondern diese Verfassung ist Teil des Dayton Friedensabkommens. Die Verfassung hat drei grundlegende Sachen nicht gelöst. An erster Stelle das Verhältnis zwischen den Bürgern und den konstitutionellen Völkern in Bosnien. Also das Verhältnis zwischen den individuellen Rechten und den Gruppenrechten. Auf der anderen Seite das Verhältnis zwischen den konstitutiven Völkern untereinander. Hier gibt es heute eine Diskriminierung. Auf der anderen Seite gibt es das Problem mit den Zuständigkeiten im Staat. Das Verhältnis zwischen dem Bund und dem Staat. Der Staat ist zu schwach und es braucht noch immer viele Zuständigkeiten, um ein funktionierender Staat zu werden.
Gernot Lercher:
Was braucht es, was muss sich ändern, um da eine Kehrtwendung einleiten zu können?
Nedim Ademovic:
Wir brauchen erstens eine Verfassungsreform. Diese Verfassung oder ohne eine Verfassung, die diese Probleme lösen wird, gibt’s keine Entwicklung in Bosnien. Das sind Hindernisse, das sind Blockaden und die Verfassung selbst hat keine Mittel vorgesehen, um diese Blockaden zu lösen.
Gernot Lercher:
Ist eine Verfassungsreform in Sicht, glauben sie, dass so etwas bald passieren könnte?
Nedim Ademovic:
Informell spricht jeder über eine Reform der Verfassung. Jeder fordert, dass die Verfassung zu ändern ist. Wir haben versucht, diese Verfassung zu ändern, das war im April 2006, aber leider ist dieser Versuch gescheitert. Und alle Bürger und Politiker wissen wahrscheinlich, dass nicht nur eine Änderung dieser Verfassung notwendig ist, sondern dass wir eine ganz neue Verfassung brauchen. Eine moderne Verfassung im Einklang mit unserer Verfassungstradition, die dann diese Probleme löst.
Gernot Lercher:
Das bringt mich wieder zurück zur Frage nach der Beziehung von einer Stadt wie Graz zu einer Stadt wie Sarajevo, wo es doch politischen Informationsaustausch über Universitäten, über Professoren, über Politiker gibt. Wie wichtig schätzen Sie diese Freundschaft, diese Beziehung auch auf dieser Ebene zwischen einer Stadt wie Graz und einer Stadt wie Sarajevo?
Nedim Ademovic:
Diese Freundschaft zwischen Graz und Sarajevo ist sehr wichtig. Ich weiß, nicht nur zwischen Graz und Sarajevo, sondern dass auch Österreich und Bosnien zusammen arbeiten, kooperieren. Und heute sind diese zwei Städte, diese zwei Staaten durch Projekte mit einander verbunden. Und ich hoffe, dass es so bleibt. Letztendlich haben wir auch einen Teil einer gemeinsamen Geschichte, die uns verbindet. Das ist sehr wichtig. Für die Entwicklung des Staates müssen wir noch immer lernen. Österreich ist ein Rechtsstaat, ein Menschenrechtsstaat, und wir können sehr viel von Österreich lernen. Deswegen brauchen wir das Engagement von Österreich, von Experten aus Österreich, auch auf dem akademischen Niveau oder auf dem Niveau von NGOs, dass besonders in Bosnien-Herzegowina das Engagement der internationalen Gemeinschaft sehr stark, sehr präsent ist. Österreich kann als ein befreundeter Staat in diesem Sinne sehr viel helfen und ich hoffe, dass es so sein wird.
Gernot Lercher:
Was natürlich voraussetzt, dass man sich gerne helfen lässt. Ist das hier der Fall?
Nedim Ademovic:
Ich glaube schon. Unsere Leute sind offen, ich glaube auch, die Politiker. Aber man muss die guten Momente auch dafür ausnützen.
Gernot Lercher:
Eine Frage zum Abschluss. Graz ist eine Menschenrechtsstadt. Sie beobachten das jetzt vielleicht aus der Distanz. Aus ihrer Zeit in Graz wissen sie aber vielleicht, dass es auf den ersten Blick nicht allzu große menschenrechtliche Probleme in Graz geben sollte. Aber es gibt sie trotzdem, vielleicht ein wenig im Versteckten. Welche Ratschläge können Sie aus Sarajevo einer Menschenrechtsstadt wie Graz geben, in der Umsetzung der Auflagen, die man sich vielleicht gesetzt hat, als Menschenrechtsstadt?
Nedim Ademovic:
Ich glaube, dass es sehr schwierig ist, Graz einen Ratschlag zu geben. Graz hat Gott sei Dank nach dem 2. Weltkrieg keinen Krieg gehabt, Bosnien-Herzegowina hatte einen Krieg. Und ich glaube, dass Graz, Österreich, dass ganz Europa aus diesem Krieg etwas lernen können. Dieser Krieg hat gezeigt, dass es in der Welt nichts von größerem Wert gibt, als Menschen und Menschenwürde. Und diese Werte sind auf dem höchsten Niveau. Und leider vergisst man das ab und zu. Heutzutage, wenn das Leben so schnell ist, wenn materielle Werte so wichtig sind, vergessen die Leute, dass an der ersten Stelle der Mensch ist und seine Würde und dafür muss man kämpfen.
Gernot Lercher:
Danke für das Gespräch