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Interview mit Satya Brata Das

Der angesehene Journalist und Herausgeber Satya Brata Das ist einer Initiatoren der Menschenrechtsstadt Edmonton. Aus Indien stammend hat er sich in der kanadischen Provinz Alberta sesshaft gemacht. Er ist Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Cambridge Strategies Inc. Gernot Lercher vom ORF Studio Steiermark führte mit ihm im Rahmen der Dreharbeiten für den Film „Menschenrechtsstädte dieser Welt“ am 17. Oktober 2007 das folgende Interview in Schloss Seggau.

Gernot Lercher:
Herr Das, Sie sind als erfolgreicher Autor, preisgekrönter Kolumnist und Experte in sozial-, wirtschafts- und außenpolitischen Fragen ein Meinungsbildner in Canada, sie sind außerdem der Motor hinter der Menschenrechtsstadt Edmonton. War es schwer, den Stadtrat und die Kommunalverwaltung dazu zu überreden, Edmonton in das Rampenlicht der Menschenrechte zu stellen?

Satya Das:
Der Stadtrat und die Verwaltung haben damit gar nichts zu tun, die Initiative dazu kam vielmehr von den Bürgern selbst. Das Besondere an Edmonton liegt darin, dass es eine Immigrantenstadt ist, die bereits zuvor sehr pluralistisch, offen und vielfältig war. Bei einer Menschenrechtsstadt geht es also nicht darum, Neues zu erfinden, sondern es muss lediglich der Rahmen geschaffen werden, damit alle, die in irgendeiner Weise mit den Menschenrechten zu tun haben – selbst wenn sie dieses Wort nicht verwenden – sehen können, was die anderen machen, sodass sie zusammenkommen können, um Verbesserungen herbeizuführen. Das heißt, der Stadtrat und der Bürgermeister beteiligen sich mit ihren eigenen Initiativen, die gar nicht so sehr Teil des Projektes Menschenrechtsstadt sind, denn die Idee der Menschenrechtsstadt ist bloß das beschreibende Rahmenwerk, ist im Grunde einfach eine andere Art, die Stadt zu sehen.

Gernot Lercher:
Lassen Sie mich die Frage anders formulieren: Wie blicken Stadtverwaltung, Bürgermeister und Kommunalverwaltung auf Edmonton als Menschenrechtsstadt, die als solche von den Bürgern gegründet wurde und nicht von ihnen?

Satya Das:
Es geht nicht so sehr um formale Dekoration, denn wir machen ja ohnehin so Vieles. Die Frage lautete vielmehr: „Wie richten wir die Aufmerksamkeit auf das, was wir machen?“ Denn die Menschenrechtsstadt ist bloß ein Katalysator, bloß eine andere Art, die Dinge zu betrachten. Zum Beispiel hat in unserer Stadt der Bürgermeister als erster in Nordamerika eine Charta für die indigene Bevölkerung unterzeichnet, und diese Charta, die vor zwei Jahren unterzeichnet wurde und nun von einem Komitee umgesetzt wird, hat die uneingeschränkte Einbindung indigener Menschen in alle Aspekte des Lebens in Edmonton zum Ziel. Man muss dazu sagen, dass in Edmonton – wie in Kanada generell – immer noch eine riesige Kluft zwischen der indigenen Gruppe und der restlichen Bevölkerung ist. Mit der restlichen Bevölkerung meine ich Menschen, die seit dreihundert Jahren in Kanada leben und zu jenen dazu gestoßen sind, die das Land seit 12.000 Jahren besiedeln. Das heißt, in der 12.000 Jahre alten Geschichte Kanada schwelt ein andauernder Konflikt zwischen den ersten Kanadiern und den späteren Ankömmlingen. Und diese Sicht der Dinge haben wir uns angeeignet. Aber obwohl die Rechte der Indigenen grundsätzlich im föderativen Statut verankert sind, hat es sich der Bürgermeister Steven Mandell, der gerade mit einer Zweidrittel-Mehrheit wiedergewählt wurde, nicht nehmen lassen, eine Charta für die Integration der Indigenen zu unterzeichnen. Selbst wenn man ihm gesagt hätte, „diese Sache ist wichtig und in Einklang mit dem Konzept der Menschenrechtsstadt“, hätte er geantwortet: „Schön und gut, aber als Bürgermeister betrachte ich es als meine Aufgabe, die Menschen zusammenzubringen.“

Ähnlich ist es im Fall des Schulsystems: Wir bieten vertiefende Kurse in zehn verschiedene Sprachen an. Niemand verlangt das von einer Menschenrechtsstadt. Wir machen es einfach.

Gernot Lercher:
Gehen wir das vielleicht einmal durch und beginnen gleich mit den indigenen Gruppen: Wie werden sie in ihren Augen in Edmonton behandelt?

Satya Das:
Zu allererst möchte ich vor der Bezeichnung „sie“ warnen, denn das schafft bereits eine Form von Distanz. Unsere indigene Bevölkerung ist mit klaren Nachteilen konfrontiert: Zum einen wurden durch die kanadische Assimilationspolitik zumindest vier Generationen von ihren Gemeinschaften getrennt und in Internaten gezwungen, eine fremde Sprache zu lernen. Für das Sprechen der eigenen indigenen Sprache wurde man bestraft. Normalerweise wurden diese Schulen von der Kirche und anderen Einrichtungen geleitet. Die überlegene Kultur hatte beschlossen, dass die indigene Kultur barbarisch sei und ausradiert werden müsse. Es kam also zu einer radikalen, systematischen Entwurzelung der indigenen Kultur. Was zerstört worden ist, kann man nicht ersetzen. Und da stellt sich die Frage: Wie kann man dann etwas erschaffen, das Würde verleiht – Würde, die aus der Identität entsteht – etwas, das diese Würde nährt und das Menschenrecht auf eigene Entwicklung aufrechterhält? Das ist unsere Perspektive. Aber innerhalb dieser sehen wir, dass sehr viel Rassismus herrscht, es gibt sehr viel Diskriminierung, es gibt viele Diskrepanzen zwischen dem Ideal und der Wirklichkeit, und es geht nun darum, diese systematisch zu beseitigen. Was wir zum Beispiel getan haben, ist Cree im Curriculum der High School als zweite Sprache zu verankern, in der alle Kurse besucht werden können. Außerdem gibt es eine High School, deren Fundament die indigene Kultur ist und die nicht ausschließlich der indigenen Volksgruppe offen steht, sondern auch anderen Kanadiern. Was dort aber unterrichtet wird, sind die indigene Kultur und Philosophie, die entsprechende Lebensanschauung und gleichzeitig das normale Schulcurriculum. Das Hauptproblem für indigene Menschen ist der Schritt in die Schule und damit einhergehend wiederum die fundamentale Zerstörung der Identität der vergangenen 150 Jahre. Um solche Dinge wieder aufzubauen, braucht es eine indigene Charta, die Beschäftigung anregt, Diskriminierung abbaut, und leistbare und angemessene Wohnverhältnisse gewährleistet. Die sicherstellt, dass Menschen, die durch diesen fundamentalen Identitätsverlust dem Drogenkonsum zum Opfer gefallen sind, in der Lage sind, ihre Existenz wieder aufzubauen. Es braucht also eigentlich eine Reihe von Maßnahmen vieler verschiedener Behörden in den Städten, die das Problem der Integration in die Hand nehmen. Man darf das Problem nicht unterschätzen oder es gar ignorieren. Das geht über die Fähigkeit zu Toleranz im Sinne von „ich toleriere dich, solange du da unten bleibst“ hinaus.

Gernot Lercher:
Könnte man sagen, dass es bereits ein Fortschritt ist, dass dieses Thema eingehend diskutiert wird?

Satya Das:
Natürlich ist es ein Fortschritt. Aber wenn man sich die Situation der indigenen Bevölkerung ansieht, dann kann niemand in Kanada reinen Gewissens behaupten, dass die Ureinwohner voll integriert seien. Vielmehr sollte eine Integration in umgekehrter Richtung stattfinden. Wir versuchen immer, die indigenen Gruppen in die restliche Kultur zu integrieren, während doch auch wir anderen uns in die indigene Kultur integrieren sollten. Und diese Erkenntnis, dass es ein interkulturelles Lernen geben muss, setzt sich allmählich durch. Es geht nicht darum, die indigenen Gruppen einfach an der „etablierten“Kultur teilhaben zu lassen, sondern darum, wie wir eine gemeinsame Kultur aufbauen können, die den Konflikt hinter sich lässt und die beiden Völker vereint.

Gernot Lercher:
Kanada ist wahrscheinlich das Land mit der größten Einwanderungsrate aus allen Teilen der Welt. Sie selbst haben indische Wurzeln und sind mit zwölf Jahren nach Edmonton gekommen. Wie geht die Menschenrechtsstadt Edmonton mit der Integration dieser Immigranten um?

Satya Das:
Diesem Thema wird eigentlich keine große Aufmerksamkeit zuteil, denn das Hauptproblem von Edmonton liegt in der Abspaltung städtischer Indigener. Es geht vor allem um Jugendliche und Kinder mit armem und unsicherem Hintergrund, die von häuslicher Gewalt gefährdet sind. Dies sind die zwei größten Probleme. Die Frage der Ansiedlung und des Sesshaft Werdens ist eine universelle. Man kann spezifische Gegenden heranziehen, in denen diverse Probleme der Immigranten gelöst werden müssen, aber es läuft immer wieder auf Integration und Pluralismus hinaus, und in vielen Fällen liegt das Problem ganz einfach darin, dass jene Immigranten, die als letzte kommen, die ärmsten sind. Unabhängig davon, ob die Wirtschaft boomt und Vollbeschäftigung herrscht, liegt das größte Problem vieler Immigranten in der Unterbeschäftigung, es liegt darin, Arbeit zu finden, die dem Können entspricht. Es gibt große Schwierigkeiten in der Anerkennung von Qualifikationsnachweisen. So haben Sie etwa einen Hochschulabschluss und müssen trotzdem Taxi fahren. Aber es liegt nicht so sehr daran, dass es ein Immigrationsland beziehungsweise eine Immigrationsstadt ist und es gibt auch keine dominante Gruppe, die sich gegen die Immigration sträuben würde, sondern es wird vielmehr innerhalb der etablierten Gesellschaft diskutiert, wer wo wann eingegliedert werden soll. Es gibt also viele Immigranten und es muss noch viel geschehen. Aber trotz allem liegt unser größtes Problem im Konflikt und in der Handlungsträgheit rund um die indigene Kultur, die wir verdrängt haben und immer noch verdrängen.

Gernot Lercher:
Sehen Sie hier ein Licht am Ende des Tunnels?

Satya Das:
Ich würde darin kein großes Problem sehen, denn Immigration und Pluralismus sind ein natürlicher Teil dessen, was uns ausmacht. Es gibt zwar ungelöste Fragen, aber es gibt kein grundsätzliches Problem. Es gibt in unserer Gesellschaft keine Ablehnung gegenüber der Immigration, denn letzten Endes sind wir alle Immigranten und müssen einander helfen. Und natürlich gibt es in diesem Rahmen Probleme, die gelöst werden müssen. Die übergreifende Frage der Integration wird eher auf individueller Ebene angegangen, ist aber auf der breiten gesellschaftlichen Basis kein großes Thema.

Gernot Lercher:
Und in Bezug auf das Problem der Indigenen?

Satya Das:
Da sehe ich durchaus Chancen, aber es bleibt eine Frage des fortschreitenden, lebenslangen Lernens. Denn wie lässt sich Fortschritt überhaupt messen? Als ich zum Beispiel an der Universität von Alberta war – das muss jetzt über dreißig Jahre her sein – gab es vielleicht fünf oder sechs Cree Studenten. Heuer waren es 1.500! Das Licht am Ende des Tunnels, wenn Sie so wollen, liegt im Lehren und in der Akzeptanz von Fähigkeiten, und das muss auf der Basis von Würde und Respekt geschehen.

Gernot Lercher:
Sie haben, wie bereits erwähnt, Ihre Wurzeln in Indien und sind mit zwölf Jahren nach Kanada gekommen. Prädestiniert Sie das für ein Projekt wie das einer Menschenrechtsstadt?

Satya Das:
Nein, eigentlich nicht. Es ist mehr ein individuelles Interesse. Wie gesagt, meine Motivation lag darin, diesen Gedanken der Gesellschaft zu vermitteln. Mich hat Walther Lichem bei einer Konferenz auf die Idee gebracht, und die haben wir dann gemeinsam den knapp 150 Teilnehmern der Konferenz vorgestellt, sie gefragt, ob sie das Projekt unterstützen würden, und alle waren begeistert. Das war für mich der Startschuss. Wir haben nichts überstürzt, sondern sind die Dinge in evolutionärer Weise angegangen, Schritt für Schritt. Zuerst haben wir ein Lenkungskomitee eingerichtet, dann haben wir evaluiert, wo die Probleme liegen. Jetzt haben wir verschiedene Komitees, die sich mit den Problemen auseinandersetzen und Lösungen suchen. Es geht also vielmehr darum, die diversen Ämter, Institutionen und Akteure zusammenzubringen. Letzten September haben wir ein Trainerprogramm gestartet, indem den Trainern das Rahmenwerk der People’s Movement of Human Rights Education PDHRE beigebracht wird. Diese Leute brachten und bildeten wiederum andere Leute aus; darunter sind welche, die  sich mit dem HI-Virus auseinandersetzen, solche, die Schwule und Lesben vertreten, Leute, die andere Gruppen vertreten oder Experten auf verschiedenen Gebieten sind, andere arbeiten im  Unterrichtsbereich und so weiter. Diese Idee, die Trainer in der Methodik des PDHRE auszubilden, wird über einige Jahre laufen, die Absolventen werden wieder andere ausbilden, und auf diese Weise bauen wir die Menschenrechtsstadt. Sehen Sie, wenn wir uns über den Stadtrat und seine Unterstützung unterhalten, dann wird das ganze zu einer reinen Medaillenverleihung. Es kostet einen Politiker nichts, die Menschenrechtscharta zu unterzeichnen. Aber das Motto „Bitteschön, ich habe die Menschenrechtscharta unterzeichnet und die Medaille bekommen, kann ich gehen?“ funktioniert so nicht. Es geht um die Ankündigung eines Anfangs. Wir setzen etwas in Gang. Wir haben die Trainer ausgebildet und ihre Ansichten geändert. Doch im Grunde geht es nicht so sehr darum, Ansichten zu ändern, sondern darum, etwas in die Hand zu nehmen, das die Menschen bereits als natürlich und gut betrachten, und es in neue Worte zu kleiden.

Gernot Lercher:
Und man sollte nicht zulassen, dass das Konzept der Menschenrechtsstadt als Etikett missbraucht wird.

Satya Das:
Auf keinen Fall, denn das würde das eigentliche Ziel untergraben. Es gibt viele verschiedene Bewegungen. Aus diesem Grund müssen wir uns stets vor politischer Vereinnahmung hüten. Das letzte, was ist wollen, ist, den Politikern eine Plattform zu bieten. Worum es uns geht, ist ein Wandel der Gesellschaft!

Gernot Lercher:
Mittlerweile gibt es siebzehn Menschenrechtsstädte – in den verschiedensten Ländern der Welt mit den verschiedensten Problemen. Glauben Sie, dass diese Städte voneinander lernen können, oder sind die Probleme so spezifisch, dass jeder selber klarkommen muss? Inwiefern ist der Informationsaustausch sinnvoll?

Satya Das:
Der Austausch ist sehr wichtig. Es darf nicht „entweder oder“, sondern „sowohl als auch“ heißen. Natürlich macht jeder seine eigenen Erfahrungen, aber indem wir diese Erfahrungen teilen, lernen wir voneinander. Manche Erfahrungen werden in unserem kulturellen Kontext verwertbar sein, andere wiederum nicht. Aber der Kernaspekt einer jeden Menschenrechtsstadt liegt darin, dass, obwohl die Menschenrechte ein universales Gut darstellen, immer noch die Vertreter der jeweiligen Kultur selbst entscheiden sollten, welche Form sie diesem Gut geben. Es stellt sich die Frage, wie lernen wir also voneinander, wie lernen wir in unseren eigenen Gemeinschaften? Es bringt nichts, sich in Muster, die von außen kommen, zu pressen. Man muss den Erfahrungsschatz, der bereits existiert, ausweiten. Es weiß doch jeder, was Menschenrechte sind. Bei einer Menschenrechtsstadt geht es darum, diese in den Blickpunkt zu rücken und Perspektiven zu eröffnen. Deshalb sagen wir, „du musst deine Menschenrechte kennen, um sie einfordern zu können.“ Wenn du zum Beispiel in ein Krankenhaus gehst, dann tut dir dort niemand einen Gefallen, wenn er dich medizinisch versorgt, sondern du nimmst das Menschenrecht auf Gesundheit in Anspruch, das dir auch zusteht und in der Charta der Vereinten Nationen steht, die das Fundament der Menschenrechte bildet. Und es ist das Geburtsrecht des Menschen, ohne Angst zu leben. Wenn nun jemand diese Rechte nicht einräumt, dann geht es nicht so sehr um einen Verstoß gegen die Menschenrechte, sondern um einen Verstoß gegen die menschliche Verantwortung. Denn es liegt in unserer individuellen, gegenseitigen Verantwortung als menschliche Wesen. Wenn ich Macht habe und jemanden sehe, der machtlos ist, dem als Menschen die fundamentalen Geburtsrechte verweigert werden, dann verletze ich meine menschliche Verantwortung gegenüber dieser Person, wenn ich nichts dagegen unternehme. Das ist das Rahmenwerk, das wir der Immigrationsstadt geben wollen. Was ist meine persönliche Verantwortung? Und wenn ich in der Lage wäre, sie wahrzunehmen, warum nehme ich sie nicht wahr?

Gernot Lercher:
Das heißt, wir sind also alle verantwortlich...

Satya Das:
...füreinander.

Gernot Lercher:
...und nicht bloß in Form der einen oder anderen Initiative?

Satya Das:
Es geht wirklich um das Fundament dessen, was uns menschlich macht. Wir sind in der christlichen Tradition die Sprachrohre unserer Brüder. Und was braucht es, um das umzusetzen? Menschen, Brüder und Schwestern

Gernot Lercher:
Vielen Dank für das Gespräch!

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Übersetzung: Mag. Miha Tavcar, scriptophil - die textagentur