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Hauptkategorie: Menschenrechtsstadt

Interview mit Dr. Nedim Ademovic

Dr. Nedim Ademovic hat in Graz und Sarajevo Rechtswissenschaften studiert. Er ist am Verfassungsgerichtshof in Sarajevo als Leiter der Menschenrechtskommission tätig. Gernot Lercher vom ORF Landesstudio Steiermark hat mit ihm dieses Interview am 17. Mai 2007 in Sarejevo im Rahmen der Dreharbeiten für den Film „Graz – Stadt der Menschenrechte“ gehalten.

Gernot Lercher:
Sie haben in Graz das Studium der Rechtswissenschaften absolviert, welche Empfindungen hat man, wenn man an das Studium damals zurückblickt?

Nedim Ademovic:
Heute, sieben Jahre nachdem ich wieder in Sarajevo lebe, denke ich, dass alle Studenten, die aus Bosnien Herzegowina damals zum Studium nach Österreich gekommen sind, auch Flüchtlinge waren. Egal, ob sie diesen Status formell hatten oder nicht. Es gab damals nicht nur einen Kampf um das Studium, um das Leben, um die Lebensmittel, sondern auch einen Kampf in der Sorge und Unruhe um die Familie, Verwandten und Bekannten und das Vermögen, das sie in Bosnien zurückgelassen hatten und natürlich einen Kampf um eine eventuelle Rückkehr. Ich glaube, dass die Studenten damals wirklich ein Doppelleben führten. Nicht nur das Studium als Studenten, sondern auch als Menschen, die große Probleme wegen des Krieges hatten. Trotz dieser Schwierigkeiten finde ich, dass das Studium sehr viel geholfen hat. Auf der einen Seite – psychologisch zumindest – finde ich, dass das Studium die Studenten zumindest vorübergehend von diesen schwarzen Gedanken abgehalten hat. Auf der anderen Seite haben die Studenten die Möglichkeit gehabt, etwas zu studieren, das ihnen in Zukunft nicht nur in Bosnien, in Österreich sondern in Zukunft überall in der Welt helfen könnte. Und das sind zwei positive Sachen. Letztendlich habe ich in Graz studiert und Graz ist eine wunderschöne Stadt, nicht nur für das Studium, sondern auch für das Leben. Diese Zeit erinnert mich an die Bekannten, an die Freunde, an die Sprache, die ich erlernt habe und natürlich an die Gebräuche und an die Sitten, die ich erlernt habe.

Gernot Lercher:
Sie tragen, wenn man so sagen darf, Graz in ihrem Herzen?

Nedim Ademovic:
Natürlich, natürlich, trotz all der Schwierigkeiten, die ich damals hatte.

Gernot Lercher:
Nun bekleiden Sie hier als Leiter der Menschenrechtskommission am Verfassungsgerichtshof ein wichtiges Amt. Mit welchen Fällen haben Sie zu tun?  

Nedim Ademovic:
Der Verfassungsgerichtshof hat wie viele Verfassungsgerichtshöfe verschiedene Zuständigkeiten. Eine der Zuständigkeiten ist der Schutz der Menschenrechte. Wir behandeln die Fälle im Bezug auf die europäische Menschenrechtskommission als letzte Instanz im Staat. Falls jemand mit unserer Entscheidung nicht einverstanden ist, hat er die Möglichkeit, sich später an den europäischen Gerichtshof zu wenden.

Gernot Lercher:
Sie haben angedeutet, Verfahren können sehr lange dauern. Worin liegt ihr Bestreben in dieser Funktion?

Nedim Ademovic:
Wir sind nur ein Gericht, aber wir sind kein gewöhnliches Gericht. Wir beschäftigen uns mit Menschenrechten und wir versuchen, menschlich zu sein. Wir versuchen den Menschen zu helfen, in jeder Situation, damit sie bekommen, was sie bekommen müssen.

Gernot Lercher:
Gehört dazu auch das Recht auf einen schnellen Abschluss ihres Verfahrens?

Nedim Ademovic:
Natürlich, das ist nur ein Problem, das wir in Bosnien-Herzegowina haben, die Länge der Verfahren. Manchmal dauern die Verfahren in Bosnien fünf, zehn oder fünfzehn Jahre sogar – aber das ist überall in Europa so. Wir haben aber Fälle, die es in Europa in dieser Form nicht gibt. Das sind Fälle in Folge des Krieges. Viele Leute können nicht zurückkehren in ihre Häuser, in ihre Wohnungen. Sie können ihr Vermögen nicht zurückbekommen. Oder manche Leute sind noch immer vermisst und die Familien, die Verwandten können die Körper nicht finden. Und in dem Sinne versuchen wir einfach einen Beschluss zu fassen, etwas zu befehlen dem Staat und zu unternehmen, was notwendig ist, um diesen Leuten zu helfen.

Gernot Lercher:
Das heißt auch, Druck zu machen?

Nedim Ademovic:
Das bedeutet einen Beschluss, indem wir einen Befehl anordnen, ein Verfahren zu beenden, in einem bestimmten Zeitraum, zum Beispiel in drei Monaten, sechs Monaten, je nachdem, wie schwierig der Fall ist.

Gernot Lercher:
Wie würden Sie jetzt, im Jahr 2007, die Menschenrechtssituation in Bosnien beurteilen?

Nedim Ademovic:
Das ist eine interessante Frage. Im Vergleich zur Situation, als das Dayton Friedensabkommen 1995 abgeschlossen wurde, ist die Situation viel, viel besser. Aber im Vergleich mit den europäischen Staaten ist die Situation – ich will nicht sagen katastrophal, aber sehr schlecht. Bosnien-Herzegowina war damals ein Rechtsstaat mit sehr starken sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechten. Heute ist das Bosnien-Herzegowina nicht. Ein Grund dafür ist, dass der Staat wirtschaftlich sehr schwach ist. Und ohne finanzielle Möglichkeiten, ohne finanzielle Unterstützung gibt es keine Möglichkeiten, einen Sozialstaat zu bauen. Deswegen ist die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Die durchschnittlichen Löhne, Gehälter und Renten sind sehr niedrig. Die Menschen kämpfen um ihre Existenz und das kann man überall in Bosnien-Herzegowina sehen. Die Versicherung ist auf einem ganz niedrigen Niveau. Auf der anderen Seite, seit wir die Demokratie haben, sind die bürgerlichen und politischen Rechte auf einem anderen Niveau. Heute, wo es die Demokratie gibt, könnten die Leute alles Mögliche sagen, können sogar den Präsidenten beschimpfen. Aber sie haben keine Arbeitsstelle, haben kein Haus, haben keine Sicherheit. Früher konnten sie nicht alles so offen sagen, hatten aber eine Arbeit, hatten ein Haus. Und das sagt etwas. Ein Grund dafür liegt auch in unserer schlechten Verfassung. Wie Sie wissen, haben wir keine demokratische Verfassung sondern diese Verfassung ist Teil des Dayton Friedensabkommens. Die Verfassung hat drei grundlegende Sachen nicht gelöst. An erster Stelle das Verhältnis zwischen den Bürgern und den konstitutionellen Völkern in Bosnien. Also das Verhältnis zwischen den individuellen Rechten und den Gruppenrechten. Auf der anderen Seite das Verhältnis zwischen den konstitutiven Völkern untereinander. Hier gibt es heute eine Diskriminierung. Auf der anderen Seite gibt es das Problem mit den Zuständigkeiten im Staat. Das Verhältnis zwischen dem Bund und dem Staat. Der Staat ist zu schwach und es braucht noch immer viele Zuständigkeiten, um ein funktionierender Staat zu werden.

Gernot Lercher:
Was braucht es, was muss sich ändern, um da eine Kehrtwendung einleiten zu können?

Nedim Ademovic:
Wir brauchen erstens eine Verfassungsreform. Diese Verfassung oder ohne eine Verfassung, die diese Probleme lösen wird, gibt’s keine Entwicklung in Bosnien. Das sind Hindernisse, das sind Blockaden und die Verfassung selbst hat keine Mittel vorgesehen, um diese Blockaden zu lösen.

Gernot Lercher:
Ist eine Verfassungsreform in Sicht, glauben sie, dass so etwas bald passieren könnte?

Nedim Ademovic:
Informell spricht jeder über eine Reform der Verfassung. Jeder fordert, dass die Verfassung zu ändern ist. Wir haben versucht, diese Verfassung zu ändern, das war im April 2006, aber leider ist dieser Versuch gescheitert. Und alle Bürger und Politiker wissen wahrscheinlich, dass nicht nur eine Änderung dieser Verfassung notwendig ist, sondern dass wir eine ganz neue Verfassung brauchen. Eine moderne Verfassung im Einklang mit unserer Verfassungstradition, die dann diese Probleme löst.

Gernot Lercher:
Das bringt mich wieder zurück zur Frage nach der Beziehung von einer Stadt wie Graz zu einer Stadt wie Sarajevo, wo es doch politischen Informationsaustausch über Universitäten, über Professoren, über Politiker gibt. Wie wichtig schätzen Sie diese Freundschaft, diese Beziehung auch auf dieser Ebene zwischen einer Stadt wie Graz und einer Stadt wie Sarajevo?

Nedim Ademovic:
Diese Freundschaft zwischen Graz und Sarajevo ist sehr wichtig. Ich weiß, nicht nur zwischen Graz und Sarajevo, sondern dass auch Österreich und Bosnien zusammen arbeiten, kooperieren. Und heute sind diese zwei Städte, diese zwei Staaten durch Projekte mit einander verbunden. Und ich hoffe, dass es so bleibt. Letztendlich haben wir auch einen Teil einer gemeinsamen Geschichte, die uns verbindet. Das ist sehr wichtig. Für die Entwicklung des Staates müssen wir noch immer lernen. Österreich ist ein Rechtsstaat, ein Menschenrechtsstaat, und wir können sehr viel von Österreich lernen. Deswegen brauchen wir das Engagement von Österreich, von Experten aus Österreich, auch auf dem akademischen Niveau oder auf dem Niveau von NGOs, dass besonders in Bosnien-Herzegowina das Engagement der internationalen Gemeinschaft sehr stark, sehr präsent ist. Österreich kann als ein befreundeter Staat in diesem Sinne sehr viel helfen und ich hoffe, dass es so sein wird.

Gernot Lercher:
Was natürlich voraussetzt, dass man sich gerne helfen lässt. Ist das hier der Fall?


Nedim Ademovic:
Ich glaube schon. Unsere Leute sind offen, ich glaube auch, die Politiker. Aber man muss die guten Momente auch dafür ausnützen.

Gernot Lercher:
Eine Frage zum Abschluss. Graz ist eine Menschenrechtsstadt. Sie beobachten das jetzt vielleicht aus der Distanz. Aus ihrer Zeit in Graz wissen sie aber vielleicht, dass es auf den ersten Blick nicht allzu große menschenrechtliche Probleme in Graz geben sollte. Aber es gibt sie trotzdem, vielleicht ein wenig im Versteckten. Welche Ratschläge können Sie aus Sarajevo  einer Menschenrechtsstadt wie Graz geben, in der Umsetzung der Auflagen, die man sich vielleicht gesetzt hat, als Menschenrechtsstadt?

Nedim Ademovic:

Ich glaube, dass es sehr schwierig ist, Graz einen Ratschlag zu geben. Graz hat Gott sei Dank nach dem 2. Weltkrieg keinen Krieg gehabt, Bosnien-Herzegowina hatte einen Krieg. Und ich glaube, dass Graz, Österreich, dass ganz Europa aus diesem Krieg etwas lernen können. Dieser Krieg hat gezeigt, dass es in der Welt nichts von größerem Wert gibt, als Menschen und Menschenwürde. Und diese Werte sind auf dem höchsten Niveau. Und leider vergisst man das ab und zu. Heutzutage, wenn das Leben so schnell ist, wenn materielle Werte so wichtig sind, vergessen die Leute, dass an der ersten Stelle der Mensch ist und seine Würde und dafür muss man kämpfen.

Gernot Lercher:
Danke für das Gespräch